An den Anfang und das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit!

4 Schlußbetrachtungen:
Frauen auf der Bühne - Die Warnung vor dem Niedergang

 

„Either the dramatist drew realistic charakter portraits, or he did not. At all events we should remember that the poet, or as I see it, the genre, had a choice. There is no reason to think that the genre’s options were limited by historical or literary factors..."

Die Dichter hätten also - was wir ebenfalls so sehen - erstens keine Frauen auf die Bühne bringen müssen und zweitens wären sie nicht verpflichtet gewesen, in einem so starken Maße „männliche", aktive Heldinnen darzustellen. Der Mythos gab diese keinesfalls vor. Es gab eine ausreichende Anzahl von Mythen, die gar keine Frauen beinhalteten, oder in denen diese nur eine verhaltene Rolle am Rande spielten. Schon gar keine Notwendigkeit hätte bestanden, Figuren wie die Antigone, die zuvor nur in Ansätzen oder gar nicht bekannt war, auszubauen und zur Hauptfigur zu machen. Aber die Dichter haben es getan, und das ist unter dem Aspekt, daß Mythos als Ereignisgeschichte verstanden wurde, besonders bedeutsam. Für den Betrachter hatte nicht Sophokles eine Antigone geschaffen, sondern diese hatte es in der Realität gegeben und dieser Sichtweise wiederum muß sich der Autor oder abstrakter: die Tragödie bewußt gewesen sein. Wir müssen also davon ausgehen, daß sowohl die Thematisierung der Frau, als auch die Art und Weise dieser Thematisierung bewußt und gewollt erfolgte.

 

Daß man sich überhaupt der Frauenfiguren auf der Bühne bediente, hängt unseres Erachtens mit den Möglichkeiten zusammen, die dem Theater damit geboten wurden, die andererseits im Gegenzug aber auch das Theater der Gesellschaft selbst bot:

Tragödie sollte zum Nachdenken anregen, zuerst aber aufwühlen und Gefühle bewegen; und diesen Gefühlsbereich auf der Bühne glaubhaft darzustellen, war die Männerwelt schlecht geeignet. Emotionalität war in einer männerdominierten Poliswelt, in der politische Entscheidungen zu treffen sind, nicht gewünscht.

Der emotionale Bereich kam in der Gesellschaft den Frauen zu - sie beklagten die Toten lautstark, sie betreuten die Söhne bis diese alt genug waren, um auf dem Marktplatz mitzuargumentieren. Es standen sich in der Gesellschaft also die gefühlsbetonte, auf den Oikos bezogene, Welt der Frau und die politisch-rationale, auf die Polis bezogene, Welt des Mannes gegenüber.

Beschränkt sich der Dichter bei seiner in der Öffentlichkeit aufgeführten Tragödie nur auf den rationalen Bereich der Männer, fehlt ihm eine Sphäre - eben die emotionale der Frau, deren Existenz ja durchaus gesehen wurde, nur daß man sie zunehmend versteckte. Die Tragödie braucht aber Emotionalität - sie soll „Jammer und Schauder" hervorrufen. Da bot es sich an, den emotionalen Bereich, der in der Polis hinter verschlossenen Türen existierte, kurzzeitig auf die Bühne zu ziehen. Frauen dürfen auf der Bühne Dinge sagen, die zu Tränen rühren.

Aber war es denn überhaupt nötig, diese emotionale Ebene auf die Bühne zu bringen? Hätte es nicht ausgereicht, einen Mythos darzustellen, nur mit Männern besetzt, mit männlichen Anschauungen und Positionen, die dem Ideal des Bürgers entsprachen? Nein! Tragödie sollte eines nicht sein: Selbstbeweihräucherung, wie sie sonst bei Festen und Umzügen erfolgte. Tragödie wollte nicht nur die Darstellung von Einheit in der Polis, sie wollte auch den Einzelnen packen, den der später in der Volksversammlung seine Position vertreten und diese überdacht haben sollte. Sie wollte Aufwühlen und damit zum Nachdenken anregen, sie wollte Emotionalität. Und dafür brauchte man die Frau.

 

Durch diese Ebene der Emotionalität ergibt sich zwingend aber auch eine breitere Sichtweise der Dinge, die sich auf der Bühne abspielen. Durch die Frauen und deren Emotionalität öffnet sich tragödienimmanent eine andere Sicht der Handlung. Es werden andere Gedankenstränge verfolgt, andere Themen angesprochen. Denn wenn die Frauen als „typische" Frauen auf der Bühne dargestellt werden, ist es unglaubhaft, ihnen „männliche" Gedanken oder Argumentationen in den Mund zu legen. Viele dieser fraulich dargestellten Charaktere (sehr oft ist es der Chor) sind zwar zumeist nicht aktiv an der Handlung beteiligt und greifen nicht in das Geschehen ein, aber sie nehmen Stellung und eröffnen der Tragödie damit eine neue Perspektive.

 

„But their helpnessless gives them another kind of independence: as outsiders, they can comment as observers on what is happening around them,..."

Die Frauen, die die Emotionalität in die Tragödie tragen sollen, bringen also zugleich noch etwas anderes in die Stücke ein: eine familiäre Sichtweise der Dinge - die zweite Sphäre der Gesellschaft. Frauen können in der Tragödie Dinge aussprechen, die einem Mann nicht zugestanden hätten, die diesen diskreditiert hätten. Frauen bieten in der Tragödie also andere und größere Möglichkeiten.

Mit dieser Darstellung der Emotionalität mittels der Frau ließ sich nun gleichzeitig kaum verhindern, daß ein Blick in ein Feld getan wurde, das in der Polis, in der Öffentlichkeit eigentlich tabu war - den Oikos. Es wurden so Problemfelder und Situationen in den Mittelpunkt gerückt, die im politischen Leben der Polis als Diskussionsthema nicht auf der Tagesordnung standen. Frauen traten in der Polis höchstens bei Feierlichkeiten oder aber in besonderen Rollen z.B. als Priesterin in Erscheinung. Die Bürgerin und damit die Trägerin des Oikos blieb (außerhalb der Tragödie) mit ihrer Situation und ihren Problemen im Dunkeln.

Die Tragödie tut mehrerlei, indem sie diesen Oikos-Bereich auf die Bühne bringt: zum einen verdeutlicht sie die unterschiedliche Stellung von Mann und Frau in der Gesellschaft, unterschiedliche Erwartungshaltungen, unterschiedliche Sichtweisen.

 

„In itself the setting of women on the stage was already an excellent opportunity for the Athenian citizen to ponder the difference between the sexes."

Sie hebt mit dem Oikos aber auch einen Gegenpol in einer Polis, die ständigen innen- und außenpolitischen Veränderungen und Neuerungen ausgesetzt war, hervor - Eine Zelle der Stagnation, in der sich zumindest in Athen seit Jahrhunderten am Machtmonopol des Mannes wie auch an der Verantwortung der Frau nichts geändert hatte, einen Hort traditioneller Werte. Der Oikos steht hier als Relikt einer alten überkommenen Ordnung in einer neuen, sich beständig wandelnden Welt.

Mit dieser Darstellung des Oikos bringt die Tragödie aber auch gleichzeitig eines deutlich zum Ausdruck: Der Oikos - und damit die Frauendomäne - ist die zweite wichtige Sphäre des Staates, ohne die, wie bereits dargestellt, kein Polis-Bürger zu Ansehen kommen konnte.

In diesem Oikos-Polis-Feld können in der Tragödie Spannungen erzeugt werden: Spannungen zwischen Emotionalität und Rationalität, zwischen alten und neuen Werten, aber eben auch (und das nimmt bei Euripides immer mehr zu) direkt zwischen Mann und Frau.

 

„Das aufs Haus, nach innen gerichtete Denken der Frau gerät in Konflikt mit der rohen, gewalterfüllten Welt der Männer."

Die Präsenz von Frauen öffnet der Tragödie nicht nur die Perspektive der weiblichen Sicht der Dinge, sondern bietet auch Einblick in die konkreten Probleme der Frauen. Wir meinen, daß es darauf angelegt war.

Allerdings kamen diese Schilderungen der fraulichen Situation durch den Filter der agierenden Akteure:

 

„One point to keep in mind is that, since men play all the parts and the author is male, the representation of women on stage is the representation of a male interpretation of women."

 

Man konnte das Bild, das von fraulichen Situationen in der Tragödie gezeichnet wurde, durchaus nur als Vermittler von Emotionalität in der Tragödie sehen. Aber man konnte eben auch weitergehen. Der Zuschauer konnte die Tragödien als Gesellschaftskritik verstehen.

Eine direkte Darstellung athenischer Verhältnisse oder gar athenischer Frauen finden wir zwar bei keinem Dichter. Bei genauer Betrachtung strotzt die attische Tragödie allerdings vor Anspielungen auf konkrete Ereignisse, aber auch auf die athenische Gesellschaft. Daß etwa die Eumeniden des Aischylos in der Begründung eines Rates münden, vermag man schwerlich für Zufall zu halten, wo der Areopag in Athen erst wenige Jahre zuvor in seinen Befugnissen drastisch beschränkt worden ist.

Es werden nie Utopien konstruiert, in die die tragischen Frauen eingepaßt werden. Frauen sind fast immer in einem Oikos dargestellt - dieser scheint ein zentrales Element der Tragödie zu sein. Er war es wohl auch in der Zeit, in der die Mythen spielen. Aber er war eben auch ein zentrales Element der athenischen Gesellschaft und als solches taucht er auf. Hauptschauplatz nahezu aller Tragödien ist ein Oikos und zwar ein „athenischer". Daß es sich um einen athenischen handelt, wird an den Erwartungshaltungen deutlich, mit denen die Frau in der Tragödie konfrontiert wird. Die Verhaltensweisen, die von ihr ausgehen sollen, entsprechen denen der athenischen Bürgerin. Und das ist der Fall, obwohl eigentlich alle Tragödien außerhalb Athens, teilweise sogar außerhalb Griechenlands spielen - wie etwa Aischylos’ Perser, die einzige zeitgenössische Tragödie, die aber auch von der griechischen Gesellschaft lediglich in die persische ge- oder übersetzt ist.

Als weiterer Bezug zur athenischen Realität lassen sich innenpolitische Elemente wiedererkennen. So kommen in Tragödien z.B. relativ häufig Volksversammlungen vor, selbst wenn es sich bei den dargestellten Gesellschaften um Königreiche handelt. Bspw. in den Schutzflehenden des Aischylos treten wesentliche, konstituierende Charakteristika der Demokratie auf, so daß „... an der beabsichtigten zeitpolitischen Aktualität gar nicht gezweifelt werden kann."

Betrachtet man sich die in die Entstehungszeit einer bestimmten Tragödie fallen den innen- und außenpolitischen Entscheidungen und Ereignisse, so sind teilweise deutliche Parallelen sichtbar, ohne daß aber eine direkte Identifikation mit Personen oder Ereignissen hergestellt wird.

Die Tragödie scheint sich also nicht nur allgemein gesellschaftlicher Bereiche und Mitglieder (Oikos und Frau) zu bedienen, um zum Nachdenken zu führen, sondern sie knüpft auch direkte Bezüge zum Leben der athenischen Oikoi und der Polis. Und sie übt Kritik - an Willkür und Despotentum. Zwar tut sie es abstrakt, aber doch klar und deutlich.

 

Aber die Akteure lenkten den Blick auch auf die Folgen des kritisierten Verhaltens.

Im Rahmen eines wichtigen Polis-Ereignisses sprachen die Dichter Warnungen aus. Jedoch taten sie es nie direkt und boten dabei eben auch kein Feld für spätere Angriffe in Form von Beleidigungs- und Verleumdungsklagen. Formal spielt die Tragödie in einer anderen Zeit und stellt den Mythos bzw. die Geschichte dar. Direkte politische Ereignisse oder gesellschaftliche Konstellationen werden somit abstrahiert. Daß die dargestellte Handlung insgesamt wahr war, stand außer Frage. Die große Gestaltungsfreiheit des Dichters um den eigentlich festen Mythenkern herum ermöglichte ihm so die Behandlung nahezu jedes Problemthemas. Die Wirkung der Tragödie war also keine direkte sondern eine subtile. Emotional sollte sie jeden Zuschauer bewegen und wer darüber hinaus Warnungen der Dichter erkennen wollte, konnte dies tun, mußte es aber nicht. Man mußte sozusagen die emotionale Warnung empfinden wollen.

Diese Abstraktheit der Tragödie dürfte auch besonders in bezug auf das Verfahren des Tragödienagons von Bedeutung sein. Die Tragödien wurden vor Aufführung geprüft und konnten abgelehnt werden. Ob direkte Kritik zugelassen worden wäre ist fraglich, aber nicht nur deshalb, weil vielleicht ein direktes Infragestellen bestimmter Verhaltens- und Vorgehensweisen bei einem Fest, wo ja auch Bündner anderer Poleis anwesend waren, nicht erlaubt worden wäre, sondern weil dies auch schlichtweg nicht Ziel der Tragödie war. Auf dem Marktplatz konnte das Für und Wider sämtlicher Einrichtungen diskutiert werden. Tragödie sollte der abstrakte Gegenpart zur konkreten Vernunftdiskussion der Volksversammlung sein. Sie bildete gleichzeitig sowohl als Institution zur Schaffung von Gemeinschaftsgefühl, als auch als individuelles Instrument, das die Psyche wie den Geist über Emotionalität ansprach, einen wichtigen Part der Polis und war von zentraler politischer Bedeutung.

Abstraktheit von Kritik ermöglicht Distanz, die den Umgang mit ihr erleichtert.

So greift die Tragödie zwar athenische Lebensverhältnisse und besonders Frauensituationen auf, um eine Ebene von Emotionalität zu erzeugen. Aber sie tut es auch, um Kritik zu üben, um den nach den Reformen des Ephialtes einzigen Träger der politischen Ordnung, den Bürger, der sich selbst der Einzige war, der sich z.B. durch Nachdenken über Aspekte der Tragödie an willkürlichen Entscheidungen hindern konnte, zu ermahnen.

 

Aber warum blieben die Dichter nicht bei einer Kritik an bestimmten Einzelpersonen oder Ereignissen vor dem Hintergrund eines intakten Oikos mit einer sittsamen, gehorsamen Bürgerin? Warum brachten sie die „schreckliche Frau" auf die Bühne?

Offenbar ging es ihnen um mehr. In der damaligen Zeit mit der Abgeschlossenheit des Oikos, diesen zurückgezogenen Bereich öffentlich zu machen und die Bühne dem weiblichen Geschlecht zu öffnen, mag mit beabsichtigter Emotionalität zu erklären sein. Vielleicht auch noch damit, daß den auftretenden Frauen zur Erzeugung eines Spannungsverhältnisses viel Raum für die Äußerung ihrer Gedanken und Probleme gegeben wird, um die Auseinandersetzung in der Tragödie zu verschärfen. Das Auftauchen von aktiven Frauen ist so nicht zu erklären. Sie wären zur Herstellung von Tragödienatmosphäre nicht zwingend notwendig. Aber sie tauchen auf - und zwar mit den Jahren über Aischylos und Sophokles zu Euripides immer aktiver und schrecklicher.

Teilweise wird behauptet, Macht von Frauen und deren Ausbrechen auf der Bühne zu zeigen, wäre ein Ausdruck von Frauenfeindlichkeit der Dichter. Diese würden mittels der Tragödien davor warnen, daß die allgemeine Bosheit und Schlechtigkeit der Frauen nur darauf wartet, auszubrechen und alles zu zerstören. Besonders Euripides wird dieser Vorwurf gemacht. Eine Behauptung, die unseres Erachtens nicht tragfähig ist. Die weiblichen Figuren begründen ihr Handeln, und sie begründen es gut. Sie überlegen und handeln nicht im Affekt. Beides Verhaltensweisen, die man von schlichter Bosheit nicht erwartet. Wäre die Frau von Grund auf schlecht, müßte sie nicht begründen, abwägen und den ehrlichen Rechtfertigungsversuch unternehmen. Sie könnte ihre Schlechtigkeit hemmungslos ausleben. Will man „schlechte" Frauen vorstellen, die die „guten" Männer überlisten, stellt man zudem vermutlich den zugrunde gehenden Helden wie eine heroische Männergestalt dar, um den Kontrast noch zu verstärken. Beides passiert nicht. Die Frauen sind nicht als von Natur aus böse und durchtrieben dargestellt, die Männer sind keine dem männlichen Ideal entsprechenden Helden - eher im Gegenteil.

Für die athenischen Männer mit ihren strengen Ansprüchen gegenüber der Bürgerin sind diese schrecklichen Tragödien-Frauen sicherlich ein Horrorszenario - aber kein „science fiction" athenischer Art von einem „Vamp" Frau, der auftaucht, um alles niederzumachen. Nein, sämtliche „gefährliche Frauen" sind (oder waren) Freie, die vor ihrer Tat als sittsame Frau im Haus, dem Manne dienend, lebten. Die meisten hatten Kinder. Erst das Verhalten eines Mannes treibt die Frauen zu Aktivität. Die Anlässe können dabei unterschiedlich sein. Das von den Frauen als Fehlverhalten empfundene aber gesellschaftlich akzeptierte Handeln des Jason ebenso wie das Verhalten eines Kreon in der Antigone, das bei allen Mitspielenden auf Unverständnis stößt. Regelmäßig bringt hier die Frau (stellvertretend für den Oikos) den Mann (den Polisbürger) um Familie und Haus, also um das, was sie als Frau als Lebensmittelpunkt besitzt. Sie trifft sich also selbst. Aber auch dem Mann wird alles genommen. Der jetzt fehlende Oikos entzieht ihm die Basis seiner Polisbürgerschaft. Die Handlungen verdeutlichen ganz stark die Dialektik zwischen Persönlichem und Gesellschaftlichem, denn die Zerstörung der Familie des Mannes zerstört regelmäßig auch dessen gesellschaftliche Stellung.

Eine Dialektik, die unserer Meinung nach aus Sicht der Dichter eine Verdeutlichung nötig hatte. In einer Gesellschaft, in der sich das Schwergewicht im 5. Jh. immer weiter in den öffentlichen Bereich verschoben hatte, da immer mehr Männer das Bürgerrecht erworben hatten, und wo als höchstes Ideal die Bürgeridentität und alles, was sie ausmachte, zählte, konnte der Oikos mitsamt seinen Frauen leicht in Vergessenheit geraten, wie es ja auch geschah. Die Tragödie warnt! Sie warnt vor einer Vernachlässigung der Hochachtung des Oikos in der Öffentlichkeit, aber auch innerhalb des Oikos vor einem Hochmut der Männer gegenüber den rechtlich Schwächeren. Der Oikos war und blieb trotz aller außen- und innenpolitischen Erfolge der Männer ein wichtiger Bereich. Und seine Zerstörung würde die der Polis nach sich ziehen.

Eine gesellschaftliche Diskussion hat es zu diesem Thema nicht gegeben. Im Verlauf des 5. Jh. gingen die Prioritäten immer mehr in Richtung auf das Recht des Stärkeren. Thukydides ist hier anzuführen, der die Macht als Maxime sämtlichen politischen Handelns benennt. Aber wahrscheinlich war das Thema der Geringschätzung, zumindest was Frauen betraf, unterbewußt doch präsent, wurde nur nicht thematisiert. Denn wie wir bereits angesprochen haben, waren sich die Männer sehr wohl der Bedeutung des Oikos bewußt, auch wenn sie ihn immer mehr verdrängten und sich als Bürgergemeinschaft in den Mittelpunkt stellten.

Wahrscheinlich existierte eine unbestimmte Angst vor dem „Wesen Frau", das so ganz anders war und in einer anderen Sphäre lebte. Und vielleicht war da auch die Frage, wie sich Frauen wohl verhalten würden, wenn sie in der dominanten Rolle wären. Schließlich war die führende Stellung der Männer keineswegs unerschütterlich und allgemeingültig. Es gab andere Gesellschaften, in denen Frauen eine größere Rolle spielten und sogar welche, in denen sie die Vorherrschaft gehabt hatten. Gleichwohl glaubte man konkret in Athen, den Oikos sicher zu haben. Er konnte nicht aufbegehren oder fliehen, auch wenn man seine Bedeutung in der Öffentlichkeit immer weniger ansprach. Die Tragödie zeigt allerdings das Gegenteil!

 

„Einen legitimen Machtanspruch in der Polis, so mahnte das Theater die Griechen, hätten nur die Männer, doch diese legitime Ordnung war alles andere als sicher."

Diese unterschwellige Angst vor der Frau will von den Tragödiendichtern möglicherweise auch gepackt werden, wenn es darum geht, zur Besonnenheit aufzurufen und deutlich zu machen, daß sich bei vernünftigem Verhalten an den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen nichts ändern muß, daß man es eben nur nicht übertreiben soll mit der Ausübung und Darstellung der athenischen (Männer-) Macht: aber daß man dabei dem Oikos seinen Platz und seine Anerkennung lassen soll, denn er ist wichtig. Und er ist dies nicht nur als zweite Stütze des Gemeinwesens, indem er den Fortbestand der Gesellschaft sichert, sondern auch, wie bereits angesprochen, als Träger der alten Ordnung, mit traditionellen Gebräuchen und Auffassungen.

Ganz deutlich kommt in den Tragödien heraus, daß die Frauen nicht gehandelt hätten, sondern in ihrer Rolle verblieben wären, wenn die Männer nicht zu weit gegangen wären. Mußte Jason sich eine zweite Frau nehmen und seine erste verstoßen, obwohl er mit Medeia Kinder hatte?

 

Nein, er hätte die Tat verhindern können. Männer in den Tragödien hätten weibliche Schreckenstaten verhindern können. Sie haben die Macht, lassen aber oft Willkür herrschen und verkennen dabei, daß Macht und Willkür nicht gleichbedeutend mit Stärke sind, denn eigentlich sind viele von ihnen schwach.

Die „gefährlichen Frauen" werden damit in erster Linie zum Symbol. Es wird aber nicht offensichtlich zu einer Umkrempelung des Oikos-Systems oder zu politischer Beteiligung der Frauen aufgerufen.

 

Vielleicht wollten die Dichter in dieser Polis aber auch schon einen Schritt weiter. Gesellschaftliche Ungleichheiten wurden nicht öffentlich thematisiert, sondern vielmehr als gegeben angesehen. Gesellschaftliche Rollen wurden in der Antike noch weniger als heute hinterfragt. Es herrschte eine andere Geisteshaltung, die es trotz der hohen geistigen Aktivität der Klassik nicht bedingte, ein Gesellschaftssystem, das z.B. Sklavenhaltung kannte, kritisch in Frage zu stellen, geschweige denn abschaffen zu wollen. Bestand also aus Sicht der Zeitgenossen keine Notwendigkeit zur Veränderung, waren die Dichter möglicherweise schon so weit, zumindest einem Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Einem Unbehagen darüber, daß man bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Schwächere ausgrenzte oder willkürlich behandelte.

Mit der Betonung des Oikos und der Frau hätten die Tragödien also ein Potential aktivieren wollen, das innerhalb der Gesellschaft vorhanden, aber versteckt war - das aber bei größerer Berücksichtigung die Gesellschaft bereichern würde.

Vielleicht gingen die Dichter sogar so weit, von den Männern mehr Beteiligung der Frauen in Einzelfällen zu fordern - eine Gleichberechtigung oder politische Aktivität der Frau wollten sie nicht. Wenn in den Tragödien über die Auswirkungen fraulichen Handelns auf den Oikos und über den Einfluß häuslicher Strukturen auf das Gesellschaftssystem reflektiert wird, wird weibliche Macht immer als Verkehrung der natürlichen Ordnung der Dinge dargestellt, als Zeichen, daß sich etwas falsch entwickelt hat. Die Dichter zeigen, daß die „schrecklichen Frauen" nie siegreich sind. Stets werden die Frauen für ihr Handeln bestraft, nie gelingt es ihnen oder erheben sie auch nur den Anspruch, das ganze System zu ändern. Hätte eine Frau die volle Sympathie des Dichters und die allgemeine Gerechtigkeit auf ihrer Seite, könnte sie ganz und gar erfolgreich sein.

Zumindest aber forderten die Dichter, daß das, wofür der Oikos gesamtgesellschaftlich stand, das alte Recht und die alte Ordnung, wieder mehr Beachtung finden sollte. Es ging um ein Überdenken von Verhaltens- und Wertmaßstäben, die vielleicht das ganze System gefährden konnten, wenn sie sich verschoben oder entarteten. Denn hätten die Protagonisten vieler Tragödien dieses alte Recht berücksichtigt, wäre so manche Katastrophe ausgeblieben.

 

Die Warnung vor einem Niedergang bei zu gedankenloser Willkür bezog sich aber unseres Erachtens nicht nur auf den Oikos. Auch dieser hat Symbolcharakter.

Vielmehr erstreckte sie sich auf alle Bereiche, die durch die Polis Athen und ihre Mitglieder dominiert wurden, so auch auf den Seebund.

Die ungebändigte Macht im attischen Seebund ließ Athen auch im Peloponnesischen Krieg die Augen vor der Realität und der eigenen Situation verschließen. Und die Willkür nahm außen- wie innenpolitisch stark zu. Das beste Beispiel ist hier wohl der Melier-Dialog.

Wir wissen heute, daß sich Dominanz und Willkür hier zuerst rächte - mit einem Abfall der Bündnerstädte im Peloponnesischen Krieg und der letztlichen Niederlage Athens. Die Dichter wußten es nicht! Sie wußten offenbar nur, daß, egal in welchem Bereich, Dominanz, Überheblichkeit und eingeschränkte Sichtweise einer Seite sich bitter rächen kann; besonders wenn man nicht bedenkt, daß man von der anderen, wenn auch unterlegenen Seite, immer noch in gewisser Weise abhängig ist. Und davor wollten sie warnen - in einer Zeit, in der nicht nur diese Dominanz- und Willkürzustände immer mehr zunahmen, sondern auch das Recht durch die teilweise wirren Entscheidungen der Volksversammlung aus den Fugen geriet und die Bedeutung göttlicher Gesetze verstärkt in Frage gestellt wurde. Diese Tendenz zur Willkür war nicht in allen Teilen der Bürgerschaft gleich ausgeprägt. Spätestens um die Jahrhundertmitte ist Kritik an Athen als einer Tyrannenstadt aufgekommen. Jedoch vermochten sich die Kritiker niemals durchzusetzen und die Situation zu verändern.

Die Tragödie war für solch eine Warnung das adäquate Mittel. Als politisch-gesellschaftliche Institution im Rahmen des Dionysos-Festes verfügte sie über eine große Öffentlichkeit, und ihr wurde von der Polis eine große Bedeutung zugesprochen.

Und die Tragödie war in dieser großen Öffentlichkeit, die sie genoß, vielschichtig. Sie wollte nicht zur Abschaffung der Demokratie aufrufen, auch nicht zu einer Gleichberechtigung der Frau, aber sie wollte in einer Zeit der geistigen und z.T. auch innenpolitischen Wirren vor Willkür warnen. Und sie wollte auch aufrufen zum neuen Überdenken der geistigen Grundlagen, auf die man sich stützte. Dabei sollte man jedoch das Alte, den Oikos und das, was er symbolisierte, auf keinen Fall aus dem Blick verlieren, sondern mit einbeziehen, in das Neue - in das, was werden sollte.

 

Die Warnung ist nahezu ungehört verhallt, oder jedenfalls hat die Klassik keine Konsequenzen aus dieser Warnung gezogen.

Der Handlungsspielraum der athenischen Frau hat sich während des 5. Jh. und auch in den folgenden Jahrhunderten nicht ausgedehnt. Wenn die Frau als solche im Kleinen, im Oikos, trotzdem noch lange „funktioniert" hat, spricht das nicht dafür, daß die Warnung der Tragödie etwa vorschnell erfolgte. Die Warnung vor der Frau ist über die direkte Bedeutung dieses Aspektes hinaus wie gesagt mehr als Metapher zu verstehen - als Warnung vor dem Niedergang des Systems bei konsequenter Mißachtung aller (und alles) außerhalb des Systems stehenden Randgruppen: der Fremden, der Sklaven, der Bündner.

Tatsächlich hat den äußeren Niedergang des klassischen Athen dann das „nicht-mehr-Funktionieren" der Bündner bzw. des eigentlich gegenseitigen Bündnissystems bewirkt. Die Unzufriedenheit mit der Folge des offenen und versteckten Abfalls der Bundesgenossen war im Peloponnesischen Krieg kaum zu verkraften.

Auch das für uns Heutige größte Erbe der antiken Griechen, die Philosophie von Platon und Aristoteles, reagierte nicht in dem Maße und mit der Wirkung, die man vielleicht erwarten könnte, auf den Ausgangspunkt der Warnung der Tragödie, die Mißachtung der Stellung der Frau.

Platon relativiert eigene gleichstellende Ansätze im Spätwerk wieder. Der etwas „garstige" Timaios und auch die Nomoi rücken von der Radikalität der Politeia ab. Aber auch die Nomoi (die zudem die Politeia als den eigentlich besten Staatsentwurf erwähnen) sind durchaus problembewußt, indem sie das weibliche Potential aktivieren möchten.

Allerdings streben sie keine völlige Gleichstellung der Geschlechter, wie noch die Politeia (für den Wächterstand!), an.

Platon hat die Warnung der Dichter bzw. die Zeichen der Zeit verstanden. - Aber er selbst ist dann wiederum nicht gehört worden.

Aristoteles zeigt sich durchgehend problemunbewußt und macht einen Schritt hinter Platon zurück. In dieser Haltung trifft er sich mit Aristophanes, der in den Fröschen die durch Aischylos symbolisierten alten Zeiten den neuen (des Euripides) vorzog. Dies wiederum scheint wie eine Flucht in selige Zeiten, die die Warnung (gerade des Euripides) gar nicht wahrnimmt und die, außer den athenischen Kriegsopfern, nichts ungeschehen machen will.

Der Tragödie ging es ja darum, dem weiblichen Element des Lebens seine Geltung neben dem männlichen zu erhalten oder besser: wieder neu zu schaffen, um so neue Fehlentwicklungen von vornherein zu verhindern. Zu den seligen Zeiten des Aischylos war die Fehlentwicklung schon eingeleitet, was dieser ja auch erkannt hatte.

 

Aber wäre nicht schon in den Zeiten des Aischylos die Warnung zu hören gewesen, wenn man sie hätte hören wollen? Gewiß! Das Zweifeln am Hergebrachten ist ein Merkmal der Klassik. Die Sophistik stellte die Götter und die Demokratie in Frage. Vor welcher Frage also hätte man zurückschrecken sollen?

Das 5. Jh. war die Zeit der großen Werteauseinandersetzungen. Alles stand schließlich zur Debatte, und alles war möglich.

Die Sophisten, die starke Spuren im 5. Jh. hinterlassen haben, stellen keine einheitliche Strömung dar. Sie wirkten größtenteils allein. Ihre Auffassungen weichen also voneinander ab. Gemeinsam ist jedoch allen, daß sich ihr Denken von der Natur und dem Kosmos im allgemeinen weg, hin auf den Menschen und die Gesellschaft bewegte, und daß sie die Ablehnung oder zumindest Relativierung überkommener Werte und Normen bei gleichzeitiger Propagierung neuer an naturgesetzlichen „Tatsachen" orientierten Prinzipien forderten. Damit wurden alle gültigen Wertmaßstäbe einer neuen Betrachtung unterzogen. Alles sollte neu begründet werden, denn alles stand in Frage. So gibt es laut Protagoras keine absolute Wahrheit, sondern nur eine relative, eine für den Menschen erkennbare. Nicht zuletzt die Erfahrungen in anderen Ländern und Gesellschaften hatten die Sophisten zu dieser These gebracht. Gorgias meinte sogar, daß erstens überhaupt nichts existiere, zweitens, wenn doch etwas existieren würde, es jedenfalls unerkennbar wäre, und drittens, selbst wenn etwas erkannt werden könnte, solche Erkenntnis nicht mitteilbar wäre. Mit solchen Thesen stellten die Sophisten natürlich in der sowieso schon auf sich ständig wandelnden Füßen stehenden Welt des 5. Jh. auch noch den Boden, auf dem diese Füße stehen, in Frage. Die Feststellungen, die die Sophisten bei ihren Untersuchungen für die Gesellschaft trafen, sind von unterschiedlicher Schärfe. Teilweise erkannten sie ein bestimmtes Potential an göttlichen Gesetzen an, das Gültigkeit hätte (so Hippias). Andererseits wurde propagiert, sämtliche Gesetze seien gegen die Natur des Menschen und nur das Recht des Stärkeren, das Naturrecht, dürfe zählen (Glaukos).

Die Annahme, daß alle Menschen die gleiche Natur hätten, führte jedoch einige Sophisten auch in eine andere Richtung. Laut diesen könne man folgern, daß alle Menschen gleich seien, so daß die Sklaverei unzulässig sei. Eine Annahme von Teilen der Sophisten, die, bezogen auf Sklaven und andere Randgruppen, keine Wirkungen zeitigte, aber zumindest von Euripides, der von den Sophisten beeinflußt war, wenn er sie auch mit kritischer Distanz betrachtete, aufgenommen wurde. So heißt es z.B. im Ion:

Denn was den Sklaven schändet, ist allein

Der Name Sklav’. Sonst steht in keinem Stück

Ein wackrer Sklav’ dem freien Manne nach."

Und wenn auch noch Protagoras feststellte, daß er nicht wisse, ob Götter real seien, und Kritias diese für pure Menschenerfindung hielt, wankt alles, denn:

 

„...wo die Götterexistenz in Frage steht, tun es auch die Gebräuchlichkeiten, die Gesetze, die letztlich durch die Götter gedeckt waren."

So gerieten die Sophisten auch in Athen z.T. als Zersetzer der Sitten in Verruf. Protagoras soll sogar angeklagt worden sein.

Die Sophisten boten Ansätze für ein Durchdenken der Gesellschaft, wenn auch oftmals Ansätze krasser Art. Eine Lösung boten sie für das 5. Jh. nicht. Sie stellten alles in Frage: die Demokratie, die Götter, die gesellschaftliche Ordnung. Eine Berücksichtigung des Alten strebten sie auf keinen Fall an. Sie zerstörten damit eine Welt, aber sie richteten keine neue auf - sie boten keine Alternative.

 

Die Dichter, besonders Euripides, griffen die Rhetorik der Sophisten an, da der Schlichte, aber Wahrhafte gegen rhetorisch Ausgebildete keinerlei Chance mehr habe, sich durchzusetzen. Sie boten im Gegensatz dazu aber einen anderen Ansatz für einen Wandel an.

Und ein solcher wäre außen- wie innenpolitisch nötig gewesen. Eine Sensibilisierung über die Tragödie hätte unseres Erachtens zum einen einen innenpolitischen Wandel bewirkt. Nicht in der Form, daß die Demokratie abgelöst worden wäre, aber in der Form, daß sich Entscheidungsprozesse und damit auch Resultate verändert hätten. Zum anderen wären außenpolitische Entwicklungen anders verlaufen.

Es herrschte nur noch „moderne" Zweck-Mittel-Rationaliät vor. Die Sitten waren verkommen, d.h. die Werte der alten Ordnung hatten keine Bindungskraft mehr. Macht galt als oberste Maxime. Das Streben „immer höher, immer weiter, immer größer" erlaubte keinen Blick nach rechts und links und erst recht nicht nach hinten. Der ausschließlich nach hinten führende Weg, von Aristophanes angedacht, konnte sicherlich auch nicht der richtige sein. Dafür hatte sich zu viel getan. Schon die Größenverhältnisse der Polis waren ganz andere geworden, von den außenpolitischen Aufgaben ganz zu schweigen.

Aber einen solchen Rückschritt haben die Dichter auch nicht gewollt. Sie wollten unseres Erachtens eine Kombination: des Alten mit dem Neuen, des Individuellen mit der Gesellschaft. Dahingehend wollten sie jedes zuhörende Polis-Mitglied als Teil der Gesamtheit erziehen. Sie wollten also neben der Warnung, die sie aussprachen, eine im Ethisch-Religiösen wurzelnde, tragfähige, neue Beurteilungsbasis schaffen. Der Verfall der Sitten sollte aufgehalten, die Grundfesten der Polis wieder aufgerichtet werden. Denn im letzten Drittel des 5. Jh. waren Ideale wie etwa die Gleichheit keine Realität mehr. Zwar waren formal alle Bürger gleich, aber schon die (ohnehin seltene) Äußerung abweichender Meinungen, die z.B. bestimmte militärischen Aktionen im Peloponnesischen Krieg in Frage stellte, konnte zur Anklage oder zum Ostrakismos führen.

Auf einer anderen, wiederum symbolisch gespiegelten Ebene, kann man also einen Wertewandel beobachten. Wenn die Tragödie vor der Unterdrückung der Frau und den entsprechenden Folgen warnt, dann liegt dem auch die Analyse zugrunde, daß alles wofür die Frau steht - das Weibliche, weibliche Werte, weibliche Sphäre Oikos und die alten Werte dieser Sphäre - unterdrückt zu werden droht. Dieses bestätigt sich im Wandel der Werte.

 

„Tollkühnheit hieß jetzt opfermutiges Eintreten für die Freunde, weise Zurückhaltung hieß verkleidete Feigheit, wer Maß hielt, galt für weibisch, wer grundsätzlich die Vernunft zu Rate zog, für grundsätzlich faul und bequem, aber wer sinnlos dreinschlug, war ein echter Mann."

Die weibliche Sphäre, der Oikos, steht für Kontinuität. Damit ist er Träger alter Werte. Bei der Zurückdrängung dieser Sphäre werden auch die Werte der alten Ordnung immer mehr vernachlässigt. Besonnenheit gibt es nicht mehr. Abschwächende oder einschränkende Argumente oder Handlungen gelten als feige. Aber damit wird auch das Handlungsfeld eingeschränkt. Die Beschlüsse der Volksversammlung werden immer willkürlicher - willkürlicher gegenüber den Unterlegenen, nicht willkürlich in der Tendenz der Entscheidungen, die immer eindeutiger, immer härter, wird Der Harte aber kann Sizilien nicht mehr aufgeben!

Zum Errichten neuer Sitten meinten die Dichter nun, die alten zu brauchen, die die einmal gegolten hatten im Zusammenspiel unter Gleichen und die in Vergessenheit geraten waren. Aber man mußte sie kombinieren mit dem Neuen - mit einer neuen Form von Moral in einer neuen Welt.

In dieser Welt, die die einzelnen Bürger immer mehr zum Entscheidungsträger machte und gleichzeitig die alten Werte zunehmend vergaß oder verdrängte, sollte dieser Bürger mit seinem Wollen mehr in den Mittelpunkt treten. Aber nicht in der Form, seinen beliebigen Willen durchzusetzen, sondern dahingehend, daß der Einzelne ein Bewußtsein seines Tuns entwickelte. Er sollte nicht mehr nur das gesetzte Recht befolgen (denn das war zunehmend veränderlich und bindungslos), sondern er sollte es wollen. Und wenn er es nicht wollen konnte, mußte er sich vor Augen führen, was er wollte, um es dann ggf. als Recht zu setzen - denn dazu war er in der Volksversammlung im Prinzip in der Lage.

Die Dichter erstrebten, mittels Rückbesinnung auf die alten Werte, einen Wandel von einfacher Sittlichkeit der bestehenden Art hin zu individueller Moralität.

Einen besonders starken Ausdruck findet dies in der Antigone, wo der Konflikt zwischen Kreon und Antigone den Gegensatz und das Aufeinanderprallen von den gleicherweise berechtigten Ansprüchen des Staates und der Familie symbolisiert. Dabei wird das deutlich, was unseres Erachtens in fast allen Tragödien angelegt ist.

 

„Die Gesetze der Stadt und die Gesetze der Götter, vom Menschen gesetztes und göttliches Recht also gilt es zu achten; das eine darf nicht auf Kosten des anderen verabsolutiert werden."

 

Wäre diese alte Ordnung, die ihren Bewahrer und Träger mit dem Oikos hat, auch berücksichtigt worden, hätte sich wohl vieles anders entwickelt. Innenpolitisch hätte man vielleicht nicht Personen wie Alkibiades oder Kleon den Vorzug gegenüber Nikias gegeben. Man hätte im Jahre 406 vielleicht auf die Hinrichtung der Strategen der Arginusenschlacht verzichtet. Und ob man einen Areopag, der ja zwar nicht ein Ältestenrat, wohl aber eine seinerseits alte Institution war, und den wenn nicht die Alten, so doch die politisch Erfahrenen als Ratgeber stellten, auf die erfolgte Art und Weise entmachtet hätte, ist zumindest anzuzweifeln. Vor allem ist hier auch der Hintergrund zu betrachten, vor dem dies geschah. Es ging nicht um Demokratie - auch wenn diese dabei das letztliche Ergebnis war - sondern um die Schwächung einer traditioneller ausgerichteten und nicht bedingungslos spartafeindlichen Gruppe von Männern. Die Reformen wurden daher auch mehr als Sieg einer Partei denn als Verbesserung der Polis-Ordnung aufgefaßt, wurde hier doch Teilen der Bürgerschaft direkt auf Kosten anderer zum Durchbruch verholfen. Aischylos versuchte in seiner Orestie diese Spaltung der Bürgerschaft aufzuzeigen und die Berechtigung beider Prinzipien zu verdeutlichen. „Versöhnung, Einigkeit, Zusammenarbeit zum gemeinsamen Wohl, das ist die politische Botschaft des Aischylos."

Man versuchte später in den 410er Jahren (wieder) einen solchen Rat der Alten - die Probulen - zu schaffen, zu dem unter anderem Sophokles gehörte. Aber da war es zu spät. Da war der Peloponnesische Krieg schon so fortgeschritten, daß keine Konsolidierung mehr möglich war.

Aber noch einige Jahre zuvor wäre eine spätere Niederlage zu verhindern möglich gewesen, wenn die Sensibilisierung und Besonnenheit vorhanden gewesen wären. Friedensangebote der Spartaner gab es genug - selbst dann noch, als sich eine Niederlage der Athener bereits abzeichnete. Was den Peloponnesischen Krieg zu einer so verheerenden Niederlage führte, war die gnadenlose Selbstüberschätzung und Selbstsicherheit der Athener, vor der in der Tragödie oft genug gewarnt wird. Keine Tat - nicht in der Tragödie und nicht in der Realität des Krieges - erfolgte unangekündigt. Es blieb jeweils die Chance, einen Rückzieher zu machen und andere Positionen zu berücksichtigen.

Hätten die Athener beides getan, ihre Selbstüberschätzung fahren gelassen und einen Denkprozeß in Gang gesetzt, der über ihre „Ideologie der Macht" hinausgegangen wäre, wäre die Katastrophe nicht eingetreten. Athen hätte wahrscheinlich auch den Seebund dominiert, aber als formaler Führer von Gleichen - erkennend, daß auch die kleineren Poleis, die Schwächeren eine Rolle spielen und in der Gesamtheit gar nicht so schwach sind, daß auch sie Rechte haben, die es zu berücksichtigen gilt, ohne daß dabei die starke Stadt Athen ins Hintertreffen geraten wäre. Vielleicht oder sogar wahrscheinlich wäre der Peloponnesische Krieg trotzdem ausgebrochen. Aber er hätte nicht so enden müssen. Wahrscheinlich hätte man sich irgendwann auf einen Waffenstillstand unter Beibehaltung des Status quo geeinigt. Aber man hätte sich geeinigt und damit auch eine Einigkeit zwischen den Poleis erzielt, die vielleicht später einem Alexander dem Großen wie zuvor den Persern das Leben schwer gemacht hätte.

Man mag entgegnen, daß ja auch nach dem Sieg der Spartaner die Polis Athen bestehen blieb und nicht wie sonst üblich, die Männer getötet und die Frauen und Kinder verschleppt wurden. Das ist richtig. Die Polis blieb bestehen. Allerdings eine, die ihre Existenz nur der Gunst Spartas verdankte, das Athen wegen seiner Verdienste gegen die Perser nicht zerstören wollte, und die keine Demokratie mehr war, sondern durch ein oligarchisches Regime der 30 geführt wurde. Die Athener hatten ihre Demokratie verspielt - die Demokratie hatte sich verspielt.

 

Aber sie hatte unserer Meinung nach die Chance gehabt, sich zu retten. Und die Tragödien waren ein wichtiger Bestandteil dieser Chance. Aber warum hat man die Anregungen nicht wenigstens in Ansätzen aufgenommen, wo doch das 5. Jh. das der großen Diskussionen über alles und jedes war?

Wahrscheinlich war man zu sehr in diesem Jahrhundert mit seinen Entwicklungen gefangen. Es entstand ein Selbstbewußtsein Athens als Seemacht und des einzelnen Atheners als Bürger und damit Teilhaber dieser Macht, das auch auf die inneren Verhältnisse ausstrahlte und das einfach nicht genügend hinterfragen ließ, zumal das Denken und Handeln der Bürgerschaft von der Gewinnung, Erhaltung und Organisation von weiterer Macht bestimmt war. Man befand sich in innen- und außenpolitischen Entwicklungen, die nicht hinreichend in Frage gestellt wurden, denn man hatte ein Problem, das oft das Nachfragen erschwert: man hatte Erfolg! Erfolg macht es auch leichter, kritische Stimmen zu unterdrücken oder zu überhören.

Es wurde diskutiert in diesem Athen. Es wurde viel diskutiert. Aber scheinbar wurden entweder wichtige Felder ausgelassen oder aber die Diskussionsergebnisse verpufften ungehört in der Volksversammlung. Sodenn man überhaupt zu Ergebnissen kam, denn bekanntlich findet ja selbst Sokrates in den Platonischen Dialogen keinen Königsweg. Und man berücksichtigte bei allen Diskussionen, so umfassend sie in dieser Männerwelt auch waren, eine entscheidenden Bereich scheinbar nicht: die der Emotionalität und der alten Werte. Der Erfahrungshintergrund der Zeitgenossen war offenbar so einengend, daß eine andere Gewichtung der Bereiche Oikos und Polis letztlich nicht vorstellbar war. Einzig die agierenden Akteure der Tragödie setzten sich aktiv mit dem Thema Emotionalität auseinander. Der normale athenische Mann war dafür nur passiv und als Adressat der Institution Tragödie empfänglich. Die subtile Botschaft aus dem Theater hinauszutragen, und mitzunehmen in das alltägliche und untragische Leben, war ihm offenbar nicht möglich oder schien ihm nicht angemessen.

Die Sophisten boten hier auch keine Lösung, jedenfalls nicht die, die unseres Erachtens von den Dichtern gewollt wurde. All ihr Hinterfragen brachte den Sophisten Ruhm und Einfluß, machte sie jedoch auch zum Zentrum harscher Kritik. Sie besaßen somit keine unangefochtene Autorität in der Gesellschaft. Sie wurden akzeptiert. Aber schon daß sie sich bezahlen ließen, brachte ihnen oftmals keine Sympathie ein.

Im Gegensatz dazu waren die Dichter hochgeachtet und verehrt. Sie haben mit der politisch-gesellschaftlichen Institution Tragödie, großteils über die Thematisierung der Frau, ein Angebot zu einer neuen Moral der Sensibilität gemacht, das aber letztlich nicht angenommen wurde.

Frauen sind somit nicht nur tragödienimmanentes Mittel um Emotionalität und entsprechende Reinigung hervorzurufen. Sie fungieren auch, um eine gewisse „Randgruppenproblematik" aufzuzeigen, und darüber hinaus eine neue Moral einzufordern - deren Bestandteil dann die Würdigung u.a. dieser „Randgruppenproblematik" wäre.

Zum nächsten Kapitel!


©verfaßt von Christine und Andreas Schinzel -Germany (Berlin)- und zuletzt verändert am 6.Februar 1998

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